Mehr Fühlen ist meine Superkraft

Moin Moin meine Sensibelchen,
Dieser Brief behandelt ein sehr umstrittenes Thema in der Forschung, Behandlung und Einschätzungen unter Psychologen. Es geht um die Hochsensibilität.

Aber zunächst wollen wir mal klären wo und wann eigentlich angefangen wurde, die Sensitivität einer Person im psychologischen Kontext zu sehen, zu beschreiben und ihnen dabei zu helfen. 

Wenn mal wieder ein Freund alles auf die Goldwaage legt, anstatt mitzukommen lieber zu hause bleibt, oder generell empfindlicher ist, dann haben wir es entweder mit sensiblen oder mit wehleidigen Menschen zu tun. Über das Zweite; das Mimimi können wir wann anders schnacken. Berta wird jetzt aber erstmal den Sensis und den Beteiligten etwas Budder aufs Brot schmieren und aufzeigen, was wir über Hochsensibilität wissen und diskutieren. 

Die amerikanische Psychologin Elaine Aron musste in den 80ern einen operativen Eingriff über sich ergehen lassen. Nach der OP war ihr behandelnder Arzt der Meinung, dass sie emotional zu stark auf die postoperativen Untersuchungen reagierte und schickte sie zu einer Therapeutin. Diese stellte fest, dass sie keine krankhaften Auffälligkeiten aufweist, sie postulierte lediglich: „Sie sind einfach hochsensibel!“. Das Wort Hochsensibilität hatte bis dato noch niemand in den Mund genommen. Elaine war fasziniert. Aus diesem Grund machten sich Elaine und ihr Mann, der natürlich ebenfalls Psychologe ist, an das neue Forschungsfeld, und das mit sehr großem Erfolg.

Heute ist der Begriff in aller Munde. Es gibt dazu millionenfach gedruckte Bücher, Ratgeber, Tests und Fragebögen, Coaching-Programme und vieles mehr. Die Hochsensibilität überflutete den Markt förmlich und Phrasen wie „Du bist sooo empfindlich“ verloren langsam ihre negative Konnotation*. Sogar bekannte Persönlichkeiten wie Richard Wagner oder Charlie Chaplin würde man heute als hochsensibel bezeichnen. Und sie reiht sich ein mit Bipolarität in Rapsongs von Kanye West oder nen’ klassischen Burn-Out eines Bänkers in der Wirtschaft.

*negative Konnotation oder negative Assoziation, also man hat eine negative Verbindung zu dem Wort oder dem Dings.

Die Forschung zu dem Phänomen ist jedoch sehr dünn und großteils bis heute von Elaine dominiert. Sie sagt über die Hochsensibilität in einem Interview folgendes:

“Sie ist ein Persönlichkeitsmerkmal, eine alternative Überlebensstrategie der Natur, die den Menschen heute noch Vorteile bringt. Beispielsweise finde ich immer einen alternativen besseren Weg aus einem Stau heraus. Wir sehen Dinge, die andere nicht sehen. Deshalb entdeckene viele hochsensible Menschen auch neue Geschäftsfelder, neue Innovationen…”

Zitat von Elaine Aron

Aber wir sind ja „Wissenschaftler“ und keine „Philosophen“, ne? Hahaha, Psychologen übertreiben oftmals echt hart ihre Rolle.

Ihr müsst wissen, dass wir alles durch wissenschaftliche Studien und Experimente mehrmals, und immer hoch professionell belegen müssen. Und ich weiß nicht, wie oft ich Diagnostik-Kurse hatte. Also dat ist kein Spaß, das sage ich euch. Das ist viel Arbeit, dauert sehr lange und erfordert so viele Probanden* wie nur möglich. Der Vorteil dieser gehypten Aufklärung ist, dass es zukünftig hoffentlich bessere und vor allem deutlich mehr Studien geben sollte. *Versuchsperson

Einige Forscher setzen deshalb die Hochsensibilität mit dem intensiver erforschten Persönlichkeitsmerkmal des Neurotizismus gleich. Denn es ist einfacher ein erforschtes Gebiet zu nehmen als ein neues empirisch zu untersuchen. Neurotizismus umfasst emotionale Labilität, Schüchternheit und Gehemmtheit. Aber ich finde das wird dem Phänomen nicht gerecht und die gute Sandra (deutsche Therapeutin aus Hamburg für Hochsensibilität) und Elaine sehen das genauso. Nur, weil man sensibel für Reize ist, heißt das nicht dass man direkt labil ist. Es gibt feinfühlige Menschen, die sehr gut damit zurechtkommen. 

Wenn man es denn weiß und akzeptiert!

Denn einen sensiblen Menschen mit einem Neurotizistschen zu vergleichen, finde ich nicht richtig. Das ist nicht das Gleiche und in meinen Augen führen solche Herangehensweisen nicht weiter. Dabei sehe ich zu viele Psychologen, die in meinen Augen als Archäologen arbeiten, anstatt der uns vorauseilenden Psychologischen Themen zu folgen und sich den entstehenden Themen zu stellen. Die Psychologie ist sooo jung, da gibt es viele unerforschte Gebiete. 

Berta wurde hier etwas frosch, aber das ist nun mal meine Ansichtsweise.

Außerdem teile ich auch die Meinung, dass das Thema sehr interessant und einleuchtend für viele Menschen ist. Inklusive mir und deshalb mache ich in diesem Brief wieder mal was ich will! 

Also nachdem wir das geklärt haben, arbeiten wir mal weiter an unserem Gedankenkonstrukt. Bisher haben wir lediglich die Interview-Aussagen von unserer guten Elaine.

*Ein Konstrukt bezeichnet eine gedankliche Hilfestellung oder Aufstellung  für eine Variable oder ein Merkmal, das nicht direkt beobachtbar ist (zB: Angst, Freude).

Hochsensibilität alleine ist keine psychische Erkrankung oder eine Störung. Natürlich, kann sie in Kombination mit Depressionen oder Zwangsstörungen auftreten, aber die  Sensibilität bezieht sich dabei hauptsächlich auf die der Reizverarbeitung eines Menschen. 

Die Reizverarbeitung ist die sensorische oder motorische Reaktion auf einen Reiz. Klingt mal wieder komplizierter als es ist, aber wenn die Ampel auf rot umschlägt, bleiben wir stehen, oder? Das heißt wir haben sensorisch wahrgenommen, dass sich die Farbe verändert hat und motorisch reagiert indem wir stehen bleiben. Alles gar nicht so komplex.

Komplex ist jedoch die Tatsache, dass es noch immer keine einheitliche Definition für das Phänomen gibt. Und auch keinen Psycho-Lexikon Eintrag, deshalb fasse ich folgend die wichtigsten Aussagen von Elaine Aron persönlich und Sandra Konrad zusammen. 

Die Hochsensibilität wird von Elaine Aron oder der deutschen Psychologin Sandra Konrad nicht als Persönlichkeitsmerkmal gesehen. Ihrer Meinung nach ist das viel zu weit gefasst, denn die Persönlichkeit setzt sich aus dem Temperament, als auch aus dem Umfeld und den bisherigen Erfahrungen zusammen. Umwelteinflüsse sind die elterliche Erziehung, Lebensereignisse (like Corona) oder soziale Unterstützung. Der bisherigen Erfahrungsschatz ist ja klärchen, oder?

Ok, soweit das Vorwort

Die Hochsensibilität soll Teil des Temperaments sein. Unser Temperament haben wir seit unserer Kindheit in uns. Ebenfalls mal wieder eine sehr komplexe Sache und es gibt verschiedene Definitionen und Erklärungen dazu. Sagen wir vereinfacht:

Das Temperament besteht aus unserem Umgang mit Gefühlen, aus der Stärke unseres Antriebs und auch dessen Kontrollfähigkeit. Das heißt unser Temperament ist tief in uns verankert und äußert sich ständig. Es ist in jeder Lebenssituation beständig am arbeiten und weiterentwickeln,  und hat Einfluss auf unsere Sensibilität. Bei Kleinkindern merkt man schnell, ob es ein kleiner Raudi oder eher ein sensibles Kind ist, welches vielleicht ruhig mit seinen Klötzen spielt und dir beim Reden aufmerksam zuhören kann. Ein Kind hat Temperament und später bildet sich daraus unsere “erwachsene” Persönlichkeit. Dennoch wird es immer ein Teil von uns sein. 

Im Alter werden wir jedoch automatisch etwas sensibler, hat man festgestellt. Auch nen’ unsensibler Raudi Rudi von und zu Schreihals.

Hochsensible Menschen nehmen demnach schon, seit ihrer Kindheit, ihre Außenwelt genau wahr und damit auch jegliche Geräusche, Gerüche oder die Stimmung von anderen Menschen. Und nicht nur das! Sie spüren wohl auch Zustände wie Hunger und Durst intensiver. Alle Informationen der Sinnesorgane verarbeiten sie tiefer als unsensible Menschen.

Ende von Berta’s zusammengewürfelter Erklärung, Thank U for da listening 🙂

Hört sich nach einem dauerhaft harten Trip an. Ist es auch! Deshalb ist für mich ein Konzert oder Feste mit vielen Menschen eine starke und unangenehme Sinnesüberflutung. Deshalb gehe ich lieber wieder oder betrinke mich, um es auszuhalten. Sonst kriege ich irgendwann Panik von dem angerempelt werden und all’ den Menschen, die mich kennen oder auch einfach nur so komisch anschauen. Manchmal läuft es ganz in Ordnung, aber manchmal kommen mir schon die Tränen. Das Beschissene an der ganzen Sache ist, dass ich immer dachte ich habe sie nicht mehr alle. Alle anderen haben Spaß und du stehst da, total überfordert, und rennst so schnell es geht an den Getränkestand. Dann verhält man sich wenigstens einigermaßen normal.

Also abhauen, betäuben oder ablenken, so können die Sinnesorgane ausgetrickst werden, damit sie endlich Ruhe geben. Bitte, damit will ich hier niemanden auffordern sich, aufgrund des nächsten Dorffests in Buxdehude, wegzuscheppern damit es einigermaßen erträglich wird. Befasst euch lieber damit und redet mit euren Freunden oder der Familie darüber. Die meisten meiner Freunde haben es leider bis heute nicht verstanden, aber das ist auch nicht schlimm. Mir reichen ein paar Wenige!

Liest man jetzt in Zeitungen und Büchern darüber, findet man immer mehr Hochsensible die ihre eigenen Erfahrungen mit dem Phänomen niederschreiben (so wie ich hier). Sie sagen von sich, dass sie sich von der Gesellschaft überfordert fühlen und mit Stress oder negativen Ereignissen nicht so gut klarkommen. Aus diesem Grund genießen sie gerne mal die Einsamkeit und ziehen sich an ruhige Orte zurück. Einfach mal durchaaaatmen!

Manch einer postuliert, dass es an der heutigen Zeit liegt, dass es auf einmal hochsensible Menschen gibt. Auf den Straßen sind mehr Autos, in der Fußgängerzone sind mehr Menschen und auf der Arbeit muss alles schneller und besser funktionieren, sonst bist du raus. Unsere Welt ist insgesamt komplexer geworden mit den letzten Jahrzehnten. Aus dem Grund identifizieren sich viele mit Elaines Konstrukt der Hochsensibilität. Einfach als Zeichen der Überforderung!

“Chillt doch alle bitte mal kurz eure Nuggets!”

Zitat von Berta

Da ist es kein Wunder, dass es manchen Personen zu viel wird und man sich zurückzieht. Die Flucht vor diesen ganzen Einflüssen, um einfach mal wieder klar zu kommen. Manche nennen das Urlaub oder denen reicht der Urlaub – grüße an unseren Thomas. Doch wenn man sich immer weiter zurückzieht, anstatt daran zu arbeiten, wird man vereinsamen und wer einsam ist, neigt auch dazu noch andere psychische Erkrankungen anzuziehen oder zu entwickeln. 

Ein Teufelskreislauf mal wieder!

Häufig assoziieren viele dieses Phänomen mit uns Frauen. Frauen sind so empfindlich. Die Uschi hat mal wieder ihre Tage. Du übertreibst mal wieder dermaßen, der Thomas hat das doch gar nicht so gemeint.

Es ist aber kein Frauending. Männer sind nach einigen anderen Psychologen, die sich mit dem Thema befassen, genauso von der Hochsensibilität getroffen, wie wir Frauen. 

Tom Falkenstein spricht über diese Veranlagung bei Männern in seinem Buch „Hochsensible Männer – Mit Feingefühl zur eigenen Stärke“. Als psychologischer Psychotherapeut hat er mehrere Jahre in London gelebt und gearbeitet. Das heißt seine Praxis war mitten im Geschehen und seine Klienten arbeiteten hart, um in der Großstadt Fuß fassen zu können. Die meisten Patienten waren daher junge Männer, die beklagten, dass sie seit ihrer Kindheit viel zu sensibel sind. Und diese Sensibilität nervt sie. Sie nervte sie auf der Arbeit, in der Beziehung und beim Bier trinken mit den Kumpanos. Wer will schon als Mann „Sensibelchen“ genannt oder als „empfindlich“ beschrieben werden.

Deshalb hadern sie mit ihrer eigenen Männlichkeit, denn ein Mann zeigt ja keine Schwäche oder wie dieser Blödsinn auch immer heißt. In seiner Therapie war es das Ziel die Sensibilität in etwas Positives zu verwandeln, oder zu sehen, und sie als Charaktereigenschaft oder Stärke  zu akzeptieren. Durch seine Recherche ist er auch auf Elaine gestoßen und fand das Konzept der Hochsensibilität oftmals sehr treffend im Bezug zu seine Patienten. Dann fing er an ein Buch darüber zu schreiben. Das Ziel seines Buches war, dass sich sensible Männer gegenseitig mit Verständnis entgegenkommen, um den Teufelskreislauf der Männlichkeitskrise zu durchbrechen. Es soll einfacher werden die Sensibilität als Segen und nicht als Fluch zu sehen. 

Also fedder Buchtipp an dieser Stelle!

*Tom Falkenstein, Hochsensible Männer – Mit Feingefühl zur eigenen Stärke // wir empfehlen die örtliche Buchhandlung, denn auf dem Weg dorthin kann man diesen riesigen Berta-Text viel besser verarbeiten und es tut gut mal drei Schritte an der frischen Luft zu spazieren, anstatt auf den Paketdienst zu warten.

Hochsensible Menschen haben es nicht leicht, aber man sagt auch über sie, dass viele verborgene Talente in ihnen stecken. Sie seien kreativer und haben eine bessere Wahrnehmung für Schönheit und ihr Umfeld. Andere können auch hochintelligent sein. Und unsere Comics waren schon immer geprägt von Superhelden, die die Eine oder Andere extrem Sensibilität aufweisen. 

Liebe Tomys, vielleicht hilft diese Vorstellung von leicht ausgeprägten Superhelden Fähigkeiten dabei deine sensiblen Kumpanos mit anderen Augen zu sehen. 

Mir gefällt diese Vorstellung,

Eure Berta